Nehmt Social Media endlich ernst

In den vergangenen Wochen und Monaten habe ich zum Thema Hate Speech häufig Sätze gehört und gelesen wie „Das ignoriere ich einfach“, „Das muss man aushalten“ oder „Das macht mir nichts aus“. Gesagt und geschrieben wurden diese Sätze meist von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Von Politiker*innen, Künstler*innen, Unternehmer*innen. Von Prominenten. Und immer wieder auch von Journalist*innen mit viel Reichweite. 

Nun kann und muss man es natürlich begrüßen, wenn Menschen sich von digitalem Hass und Bedrohungen nicht einschüchtern lassen. Auch die Strategie, so etwas einfach zu ignorieren und auszusitzen, bringt durchaus einige Vorteile mit sich. Nur leider wird dabei viel zu häufig vergessen, dass sich nicht allen solche Möglichkeiten bieten. 

Denn was ist mit all jenen, die alleine kämpfen? Weil jemand mit viel Reichweite sie seinen Anhänger*innen zum Fraß vorgeworfen hat. Weil sie sich einmal unüberlegt geäußert haben. Weil sie vor zehn Jahren mal mit dem Flugzeug geflogen sind und jetzt „Fridays for Future“ unterstützen. Oder weil es einfach nur ihr Job ist, in die Niederungen der Online-Kommentare hinabzusteigen. Zu lesen. Zu löschen. Zu moderieren. Und Anweisungen auszuführen, obwohl sie es eigentlich besser wissen.

Was ist mit den vielen studentischen Hilfskräften, Aushilfen und Angestellten, die jeden Tag tausende Kommentare lesen, die in sozialen Netzwerken und auf Webseiten abgegeben werden? Wer denkt an sie, wenn es ums Wohlbefinden am Arbeitsplatz geht? Wer denkt an die Kollegin im Home Office, die nach acht Stunden Moderation unter Artikeln zur deutschen Flüchtlingspolitik den Glauben an die Menschheit verliert und nur noch die Decke über den Kopf ziehen will?

In Zeiten, in denen wir (bzw. die Medien) fast täglich über Meinungsfreiheit in Deutschland sprechen, sollten wir die nicht vergessen, die Tag für Tag dafür kämpfen, dass gesagt werden darf, was gesagt werden sollte. Die aber auch sicherstellen, dass die Grenzen der Meinungsfreiheit eingehalten werden. 

Selbst im Jahr 2020 wird immer noch viel zu oft über die Arbeit von Kolleg*innen aus der Social-Media- und Community-Abteilung gelächelt. Die müssen ja nur irgendwas im Netz posten, heißt es. Und dabei auf Inhalte ihrer Kolleg*innen zurückgreifen. Null Eigenleistung. Das kann doch jede*r. So die Vorurteile.

Dabei bedeutet Social Media so viel mehr. Egal ob haupt- oder nebenberuflich. Community-Arbeit ist vielseitig und abwechslungsreich. Manchmal lustig – aber häufig auch sehr belastend. Physisch und psychisch. Darauf habe ich in Bewerbungsgesprächen mit potenziellen neuen Mitarbeiter*innen in der Vergangenheit immer explizit hingewiesen. 

Schichtarbeit. Breaking News. Höchste Konzentration. Wenige Fehlertoleranz – denn was einmal gesendet wurde, lässt sich nicht so leicht wieder einfangen. Nachrichten bewerten, Shitstorms vorausahnen und immer einen ruhigen Kopf bewahren: Das Anforderungsprofil für Social-Media-Mitarbeiter*innen hat sich seit dem Jahr 2002 massiv gewandelt. Und es wird höchste Zeit, dass die Verantwortlichen endlich einsehen, wie wichtig diese Arbeit ist. Dass sie Ressourcen schaffen und Fortbildungen genehmigen. Dass sie ordentlich bezahlen. 

Unternehmen müssen endlich einsehen, dass nicht jeder zum Social-Media- oder Community-Redakteur oder -Manager geboren wurde. Dass Social Media nicht gleich Community-Arbeit bedeutet. Dass der Job verdammt anspruchsvoll und anstrengend sein kann. Und dass man als Arbeitgeber darauf reagieren und seine Mitarbeiter*innen unterstützen muss. Damit sie auch in Zukunft noch mitbekommen, wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert. Damit sie die Breaking News auf Facebook, Twitter und Co. veröffentlichen können, bevor es jemand anderes tut. Damit sie in die Diskussion mit den Leser*innen einsteigen können – ruhig, sachkundig und mit der Rückendeckung ihrer Vorgesetzten. Damit sie weiterhin sicherstellen können, dass alles gesagt wird, was gesagt werden darf. Und damit sie weiter gewährleisten können, dass die Grenzen der Meinungsfreiheit eingehalten werden. 

Es gibt noch viel zu tun. Und es ist höchste Zeit.

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