Berichterstattung beim Wall Street Journal im Wandel der Zeit

Mein Kollege Paul Beckett arbeitet von Hongkong aus für das Wall Street Journal. Vor ein paar Tagen hat er auf der Publish-Asia-Konferenz über unseren gemeinsamen Arbeitgeber gesprochen und erzählt, wie sich die Berichterstattung im Laufe der vergangenen Monate und Jahre gewandelt hat. Weil er dabei sehr schöne Einblicke gibt und auf viele Probleme und Chancen des digitalen Wandels eingeht, habe ich die Rede mit seiner Erlaubnis übersetzt. 

Guten Morgen, meine Damen und Herren.

Es ist noch gar nicht so lange her, da gab es beim Wall Street Journal eine einfache Regel dafür, was eine Geschichte wird, und was nicht:

Ist es interessant für die Leser unserer US-Zeitung, dann machen wir es. Falls nicht, dann nicht.

Doch in den vergangenen paar Jahren gab es einige Veränderungen. Heute fragen wir uns: Ist die Geschichte interessant für eine digitale Leserschaft irgendwo auf der Welt, die für uns von Bedeutung ist?

Ist die Antwort auf diese Frage ja, dann legen wir los.

Ob es die Geschichte am Ende auch in unser Aushängeschild – also die Printausgabe – schafft, spielt dabei keine Rolle. Sollte es so sein, dann ist das ein Bonus. Anderenfalls ist es auch keine große Sache.

In mancherlei Hinsicht ist das eine verstörende Entwicklung. Es bedeutet, dass wir nicht länger „Auslandskorrespondenten“ haben, die für eine Leserschaft „in der Heimat“ schreiben.

Wir wurden gezwungen, darüber nachzudenken, wie wir unsere Nachrichten an Land holen und Prioritäten innerhalb der Redaktionen setzen.

Es gab einen grundlegenden Wandel in der Art und Weise, wie Geschichten konzipiert, eingereicht, redigiert und veröffentlicht werden.

Wir müssen heute viel unternehmerischer vorgehen. Wir müssen unabhängiger sein. Selbstbewusster und – so unsere Hoffnung – näher an unseren Lesern.

Ich würde Ihnen heute gerne ein paar dieser Veränderungen vorstellen.

Die erste Frage lautet: Wer ist heute unsere Leserschaft? Eigentlich ist das die falsche Frage. Es müsste heißen: Wer sind unsere Leserschaften?

Für das Wall Street Journal gibt es davon heute viele.

Hier in Asien sind wir ständig auf der Jagd nach neuen regelmäßigen Lesern – die unsere Geschichten in der Sprache lesen können, in der sie es wollen.

Es ist nicht einfach, sie zu erreichen. Aber alleine dadurch, dass wir es versuchen, schaffen wir zwei Dinge: Wir heben uns von unseren Wettbewerbern ab. Und wir stellen das WSJ einer neuen Generation von Lesern in neuen Regionen vor.

Unser Ziel ist es, sie zu Abonnenten zu machen.

Wir unterteilen unsere Zielgruppen in drei Kategorien. Wir fliegen in drei unterschiedlichen Höhen.

Da gibt es zunächst die Sicht aus einer Höhe von 15 Kilometern – der weltweite Blick. Das ist unsere Zeitung. Wir reden hier von unserer traditionellsten Leserschaft: Weltweite Führer. Unternehmer. Menschen auf der Suche nach qualitativ hochwertigen Nachrichten aus Finanzen, Politik und Wirtschaft von überall auf der Welt. Wir reden von einem begehrten Publikum, das in seiner Zahl begrenzt ist.

Dann gibt es die 9-Kilometer-Sicht – der regionale Blick. Das ist unsere Asien-Seite www.asia.wsj.com. Hier finden sich vor allem Geschichten mit einem asiatischen Schwerpunkt. Wir schauen auf das, was um unser Büro in Hongkong herum geschieht. Wir präsentieren Geschichten für eine asiatische Leserschaft überall auf der Welt.

Dann gibt es die 3-Kilometer-Sicht – der nationale Blick. Wir werden niemals das lokale Geschäft abdecken. Das machen wir nicht mal in den USA. Doch vor allem in Ländern, in denen wir der Meinung sind, Sorgfalt und tiefergehende Einblicke ins Spiel bringen zu können, wird dieser Bereich immer wichtiger für uns.

Und dafür haben wir unsere Echtzeit-Blogs (Real Time). Hier werfen wir auch einen genauen Blick auf unsere Kernthemen in Asien: „Digits“ für Technologie, „Moneybeat“ für Finanzen und „Real Time Economics“ für die Wirtschaft.

Hier setzen wir einen Schwerpunkt auf verschiedene Sprachen: China WSJ, Japan WSJ, Korea WSJ, Indonesien WSJ, Indien WSJ – wobei letzteres auf Englisch ist.

Wir wollen Teil der Gespräche im Land sein.

Dieses vielschichtige konzeptionelle Gerüst erlaubt es uns, bei den Geschichten aus zahlreichen Quellen schöpfen zu können und nicht von Spezialisten verdrängt zu werden.

Aber welchen praktischen Effekt hat das alles auf die Art und Weise, wie wir Journalismus machen?

Wir machen es vor Ort. Jeden Tag werden in Asien mehr als 100 Artikel verfasst, bevor das Hauptquartier in New York überhaupt wach ist. Das bedeutet, dass wir Entscheidungen treffen und Texte redigieren müssen. Außerdem benötigen wir die notwendigen Befugnisse, um Geschichten veröffentlichen zu dürfen.

Zusätzlich zu all unseren Büros in der Region haben wir in Hongkong heute:

  • ein Real-Time-Editing-Desk für herkömmliche und digitale Breaking News
  • ein News Desk für die Bearbeitung von längeren Geschichten
  • Redakteure mit speziellen Schwerpunkten wie Unternehmen, Finanzen und Wirtschaft
  • ein Team für die Erstellung von Grafiken und interaktiven Geschichten, darunter drei baldige Programmierer und einen Videoarbeitsplatz
  • und bald wird es auch einen Redakteur geben, der einen Blick auf unsere Standards und unsere Ethik hat, und bestimmte Geschichten, die während des Tagesgeschäfts in Asien veröffentlicht werden, noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Wann immer es möglich ist, verfolgen wir eine Praxis, die wir intern als „simultane Detonation“ bezeichnen – und veröffentlichen unsere Geschichten in mehreren Sprachen gleichzeitig.

Dadurch stellen wir sicher, dass unsere ausländischen Angebote immer auf dem gleichen Stand sind und wir nicht nachträglich übersetzen müssen.

Ein paar Beispiele:

Diese Geschichte über den Busstreik in Singapur ist ein klassisches Beispiel für WSJ-Journalismus. Es geht um Firmen, Wirtschaft, Immigration, Demografie – alles verpackt in einer Art Kurzgeschichte. Es sind 10.000 Wörter aufgeteilt in mehreren Kapiteln, die über einen Zeitraum von fünf Tagen veröffentlicht wurden.

Die Geschichte lief gleichzeitig in Südostasien auf Englisch, auf unserer indonesischen Seite auf Bahasa und in China sowohl auf Englisch als auch auf Chinesisch. Die meisten Leser hatten wir mit Abstand bei unserer chinesischen Version.

In der US-amerikanischen Printausgabe lief die Geschichte nicht. Aber auch so hatte sie ihre Berechtigung.

Und noch ein Beispiel: Es gibt eine 17 minütige Dokumentation über die Kowloon Stadt in Hongkong. Die Geschichte ist Teil unserer Bemühungen, noch stärker über die Lebensweise der Menschen zu berichten.

Als die Story im Rahmen unserer Partnerschaft mit Yahoo in den USA aufgegriffen wurde, wurde sie 400.000 mal angesehen. Als sie dann später in China lief, waren es fast 900.000. Insgesamt liegen wir nun bei über 1,25 Millionen Abrufen. Damit gehört das Video zu den Top 5 aller WSJ-Videos.

Die Geschichte wurde in Hongkong erarbeitet, produziert und veröffentlicht. Erst vor zwei Wochen haben wir ein interaktives Feature gestartet, das die Zuschauer noch stärker in dieses faszinierende verlorene Labyrinth hineinführen soll. Ich rate jedem, es sich einmal anzusehen.

Kowloon

Unser Ansatz erlaubt es uns, tief in die Themen einzutauchen und sie auch über einen längeren Zeitraum zu verfolgen und von vielen unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten.

Werfen wir doch einen Blick auf eine der größten Unternehmensgeschichten Asiens – den Börsengang des chinesischen E-Commerce-Giganten Alibaba. Weil wir die Sache von drei unterschiedlichen Höhen betrachtet haben, sind auch unterschiedliche Geschichten dabei herausgekommen. Wir hatten Stories auf der ersten Seite der US-Zeitung, ein interaktives Feature und detaillierte Analysen zu allen möglichen Aspekten dieser Firma und zu ihrem weltweit beobachteten IPO. Unsere Beiträge wurden nicht nur in Asien gelesen, sondern überall auf der Welt von Menschen, die sich für den Technologie-Sektor interessieren.

An erster Stelle stehen für uns natürlich auch weiterhin die hohen Standards und die Qualitätskontrolle, für die das Wall Street Journal weltweit bekannt sind. Das ist unerlässlich. Wir bewegen uns auch weiterhin mit New York in eine Richtung, was unsere Strategie betrifft. Wir sprechen uns bei vielen Geschichten ab und fragen, wie wir damit so viele Menschen wie möglich ansprechen und wie wir alle von unserer Kooperation profitieren können.

Manchmal müssen wir uns jedoch von den Bedürfnissen der USA und vor allem denen der US-Zeitung entfernen.

Als Beispiel möchte ich den Taifun Haiyan auf den Philippinen im November nennen. Wir wussten, dass diese Geschichte bei unseren Lesern in Asien sehr gefragt sein würde – und bei einer digitalen Leserschaft überall auf der Welt, die sich für Asien interessiert.

Doch in der US-Print-Ausgabe gibt es Begrenzungen. Viele Themen wollen abgedeckt werden, und irgendwann sind die Seiten voll. Obwohl das Produkt für uns sehr wichtig ist und wir jeden Tag spannende Geschichten dafür liefern, bedeutete das für uns, dass das Interesse an einer kontinuierlichen Berichterstattung über den Taifun nachlassen würde.

Wir konnten beobachten, dass unsere Konkurrenten in den USA in einer ganz ähnlichen Situation wie wir einen Rückzieher machten und entschieden uns dafür, noch einmal nachzulegen.

Die Geschichten mit dem meisten Tiefgang zum Taifun waren klassische Erzählstücke im WSJ-Stil, die einen Monat nach der Katastrophe veröffentlicht wurden. Online stießen sie auf rege Nachfrage. Sie waren nicht für die US-Printausgabe gemacht, auch wenn es einige Stücke hinein schafften, wenn Platz und Interesse vorhanden war.

Es war aber nicht einfach nur Text. Wir erweiterten unsere Stücke um alles, was die digitale Welt zum Geschichtenerzählen beisteuern kann. Ich bin sehr froh darüber, dass wir es gemacht haben. Und ich glaube, dass es unsere Leser ähnlich sehen.

Ganz ähnlich sieht es bei unserer Berichterstattung zu Flug MH370 aus. Vom ersten Tag an lief eine Streaming-Story, es gab den wochenlangen Live-Blog, ein investigatives Projekt und wir hatten die Möglichkeit, umfassende und detaillierte Geschichten zu erzählen.

Die ganze Zeit über haben wir uns ständig mit unseren US-Luftfahrtexperten abgesprochen und dabei den gewünschten Effekt erzielt: Wir waren oft die Ersten, die über eine bestimmte Entwicklung berichteten und berichteten gleichzeitig 24 Stunden am Tag von dem Unglück. Natürlich landete nur ein Bruchteil davon in der Zeitung. Es gibt einfach nicht genügend Platz – und das ist in Ordnung so.

Flug MH370 war für uns auch ein Experiment, um zu testen, wie wir unsere Leser erreichen. Es gibt zum Beispiel eine digitale Tributwand, mit der jeder Person an Bord des Fluges gedacht werden soll – sowohl auf Englisch, als auch übersetzt auf Chinesisch. Wir luden unsere Leser auch ein, ihre Gedanken zu teilen und den Verschollenen Respekt zu zollen.

Wir verfolgen diese Ansätze mit dem Wissen, dass wir unser Publikum auf immer neuen Wegen erreichen müssen. Wir verstärken unsere mobilen Auftritte, und wir konzentrieren uns auf die Suche und soziale Netzwerke. All das wird jeden Tag von unserem Newsroom in Hongkong erledigt. Wie bereits gesagt: Eine deutliche Veränderung gegenüber unserem Arbeitsalltag vor einem Jahr.

Wohin wird die Reise gehen? Wir stoßen immer weiter vor – in zum Teil noch unbekanntes Territorium. Wenn wir ein Thema erkennen, von dem wir glauben, dass es unsere Leser interessiert, dann soll es das komplette Paket sein.

Das Wall Street Journal heute unterscheidet sich deutlich von dem von vor einem Jahr. Doch in zwölf Monaten wird es dann auch wieder ganz anders aussehen.

Vielen Dank für Ihre Zeit.

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