Was Social-Media-Experten von 2018 erwarten
Es war ein wuseliges Jahr – nicht nur im Bereich der sozialen Netzwerke. Vieles von dem, was hier vor einem Jahr geschrieben wurde, ist eingetreten – wenn auch nicht ganz so, wie vielleicht ursprünglich gedacht.
Nun wird es Zeit für einen erneuten Ausblick – mit bekannten Gesichtern und einigen, die bei den letzten beiden Malen noch nicht dabei waren. Danke dafür!
WAS ERWARTET UNS 2018 IM BEREICH DER SOZIALEN MEDIEN?
tl;dr
- Das Verhältnis von Publishern und sozialen Netzwerken wie Facebook wird sich weiter anspannen
- Facebook bleibt ein wichtiger Baustein in der Digital-Strategie vieler Verlage – aber eher als Community- denn als Traffic-Treiber
- Der Kampf um Reichweite wird noch intensiver. Erstmals müssen Verlage ernsthaft darüber nachdenken, Geld für Reichweite auf Facebook und Co. in die Hand zu nehmen
- Stichwort Netzneutralität: Die Big Player wie Facebook und Instagram sind am Ende die großen Profiteure der Social-Media-Datenpässe von Vodafone, Telekom und Co.
- Die Regulierung der großen Plattformen wird 2018 das zentrale Thema sein
- Der Journalismus verschwindet noch weiter hinter Bezahlschranken, aber auch die Nutzer ziehen sich zurück
Stephan Dörner – Chefredakteur t3n.de
Wenn 2018 so wie 2017 wird, dann muss man nüchtern sagen: Viel ändern wird sich nicht. Lese ich die Prognosen, die wir vor einem Jahr auf diesem Blog veröffentlicht haben, ist so gut wie alles noch aktuell: Kampf gegen Click- und Engagement-Baiting, Fake News, der Megatrend Mobile und Video. Das Thema Chatbots spielte im vergangenen Jahr eine geringere Rolle als es viele Anfang 2017 erwartet haben.
Wenn man ehrlich ist, ist 2017 aus Social-Media-Sicht nicht viel passiert – zumindest technisch und aus User-Perspektive. Das Unternehmen Facebook sitzt mit den drei Plattformen Facebook, WhatsApp und Instagram in der westlichen Welt für private Kommunikation so fest im Sattel wie noch nie. Der Emporkömmling Snapchat hat es nicht geschafft, zum Massenmedium zu werden (und wurde von Instagram fleißig und erfolgreich kopiert), andere Netzwerke wie Twitter blieben weiter in ihrer interessanten Nischenrolle.
Wenn sich etwas verändert hat, dann vor allem etwas, das weniger offensichtlich ist: Das Verhältnis zwischen Publishern und Social-Media-Plattformen. Inzwischen ist jedem Verlag aufgefallen, dass Facebooks Instant Articles und Googles AMP zwar der Reichweite dienen, für die Monetarisierung der Inhalte aber kaum funktionieren. Beides wird meiner Einschätzung nach 2018 bewusster eingesetzt werden. Oder Google und Facebook werden dafür sorgen, dass Instant Articles und AMP-Seiten entweder besser für die Monetarisierung funktionieren oder für andere Conversions wie Newsletter-Anmeldungen.
Die Publisher sind sich 2018 so bewusst wie noch nie, dass ihnen das Schicksal austauschbarer Inhalte-Lieferanten für die Plattformen droht, bei denen die Nutzer sich am Ende vielleicht noch daran erinnern, dass sie etwas auf Facebook gesehen haben aber nicht, aus welcher Quelle der Artikel stammte. Daher werden Themen wie Leserbindung, Bezahlstrategie und andere „Call to Actions“ wie Anmeldungen auf Kanäle wie Newsletter im Zentrum der Social-Media-Strategien vieler Publisher stehen.
Wenn wir Glück haben, wird Facebook 2018 außerdem dämmern, dass sie den Feed durch zu viel Fokus auf Videos und Engagement für die meisten Nutzer kaputtoptimiert haben. Und vielleicht kommt 2018 nun endlich die Offensive lernender Chatbots, die ich bereits 2017 fälschlicherweise prognostiziert habe. Nicht unbedingt schon 2018, aber definitiv in den kommenden Jahren rechne ich außerdem mit einer Art „Second Life 2.0“ von Facebook in der virtuellen Realität.
Lisa Stadler – Head of Audience derStandard.at
2018 wird ein Jahr werden, in dem viele Publisher noch mehr in die Reichweite investieren müssen. Restriktiver werdende Algorithmen zwingen vor allem kleinere Player am Markt dazu, ihre Posts zu boosten, weil ansonsten kaum noch die relevante Zielgruppe erreicht werden kann. Ohne kluges Planen der Werbeanzeigen ist man schlecht aufgestellt.
Gleichzeitig sind die Verlage es den Usern schuldig, wieder an Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Das sinnvolle Nutzen der neuen Transparenz-Tools von Google und Facebook etwa ist ein erster Schritt. Das wiederum erfordert neue Workflows in Newsrooms. Zudem muss ein Bewusstsein geschaffen werden, dass Medien sich um jeden einzelnen User und den Dialog mit ihm bemühen müssen.
Dabei kann vor allem Direct Messaging eine Rolle spielen. Während die Bereitschaft bei vielen sinkt, öffentlich in sozialen Netzwerken zu liken, zu kommentieren oder zu teilen, ziehen sich UserInnen mehr in WhatsApp, Facebook Messenger, Telegram oder E-Mail zurück. Hier nicht den Kontakt zur Leserschaft zu verlieren, wird eine der großen Aufgaben der nächsten Jahre sein.
Der große Live-Broadcasting-Boom wird sich auch 2018 nicht einstellen, Live wird aber weiterhin eine gute Ergänzung im Toolset bleiben, vor allem bei der Fußball-WM in Russland. Und wer das gut beherrscht, wird im Vorteil sein. Ähnlich sieht es mit Chatbots aus: Sie sind nicht der Retter am Horizont, aber klug eingesetzt können sie Ressourcen sparen und die UserInnen glücklich machen.
Andreas Rickmann – Head of Social Media BILD
Für Publisher wird das Jahr 2018 unübersichtlicher. Die Zeit, in der es genug war, Inhalte mit der Gießkanne zu verteilen („Wir machen mal eine Facebook-Seite“) ist endgültig vorbei. Deshalb wird es noch wichtiger, die richtigen und nicht irgendwelche Communities mit seinen Inhalten zu erreichen und dafür alle Formen und Plattformen zu nutzen. Das gibt uns die Chance, Experimente zu wagen. Endlich mal wieder.
Publisher müssen sich außerdem überlegen, was für sie Erfolg auf Plattformen bedeutet und dürfen sich nicht von Metriken blenden lassen, von denen nicht sie profitieren, sondern die Plattform selbst.
Glaubwürdigkeit ist und bleibt für journalistische Produkte am wichtigsten. Wer seine Inhalte für Algorithmen verstümmelt, schadet sich langfristig selbst.
Lina Timm – Geschäftsleitung Media Lab Bayern
Was der nächste Trend in Social Media wird? Die Frage ist irrelevant.
Grund 1: Social Media ist das Web, in dem wir jetzt leben. Insta hat ein neues Feature? Egal. Snapchat baut AR aus? Egal. Facebook ändert den Algorithmus? Egal. Wir werden uns daran anpassen. Plattformen sind die Infrastruktur, die Rahmenbedingung, mit der das Web an sich funktioniert. Wer online ist, ist social.
Grund 2: Ich habe das Gefühl, viele haben den Kern von Social Media überhaupt nicht verstanden. Am Anfang war der Austausch. Austausch mit Freunden. Dann haben Marken und Medien die Kanäle entdeckt, gesehen, dass dort alle sind und haben ihr altes Modell auf das Social Web übertragen: Leute mit Content bewerfen.
Der Kern von Social Media ist Austausch – und im Internet voller Überfluss wird für Marken und Medien eines immer wichtiger: Bindung. Social bietet uns fantastische Möglichkeiten, mit unseren Kunden ins Gespräch zu kommen. Warum nicht eine Facebook-Seite anlegen, die nur für Diskussionen da ist statt für Werbung? Warum nicht die Firmen-Accounts nur für den Austausch nutzen statt für Produkt-Posts? Je mehr eine (Medien-)marke mich ernst nimmt, mit mir auf Augenhöhe diskutiert, desto mehr nehme ich sie als Mensch wahr bzw. sehe, dass dahinter Menschen stecken. Und am Ende kaufe ich Produkte, Artikel, Abos von Menschen, nicht von Marken.
Martin Hoffmann – Online-Journalist und Unternehmer
Ich glaube, dass 2018 unter einem großen Oberthema stehen wird: der Regulierung der großen Plattformen. Die EU wird vorangehen und sich ganz genau ansehen, welche Spielregeln in einer digitalen Welt für Facebook, Amazon und Google gelten müssen. Auch die deutsche Politik wird heftiger darüber diskutieren, welche Grenzen den Internet-Riesen gesetzt werden müssen. Dadurch könnte ihre bislang scheinbar unaufhaltsame Erfolgsstory vorerst gestoppt werden. Das wird auch unseren Blick auf das Silicon Valley verändern, das bislang noch als Hafen der Glückseligkeit gilt, in Zukunft aber deutlich skeptischer beäugt werden wird.
Einzige Ausnahme: Amazon, das im nächsten Jahr anfangen wird, Facebook und Google im Werbegeschäft noch viel stärker Konkurrenz zu machen und dabei eine Cash Cow hat: Es verdient an jeder verkauften Anzeige nicht nur durch den Werbetreibenden, sondern auch durch den Kauf des Produktes auf der eigenen Plattform. Amazon konkurriert darum mit Apple, wer die erste Billionen-Dollar-Firma der Welt wird.
Das eingenommene Geld wird Amazon unter anderem ins Content-Geschäft investieren – vor allem im Bewegtbild-Bereich. Ob Amazon Prime Video tatsächlich zu einer echten Konkurrenz für Netflix werden wird, ist aber offen. Mehr Chancen hat aus meiner Sicht Disney, das spätestens 2019 mit einer eigenen Streaming-Plattform an den Start gehen wird und dank des Kaufs der vielen wertvollen Inhalte von 21st Century Fox riesiges Wachstumspotential hat.
Zum Amazon-Erfolg trägt auch Alexa bei, die bald in vielen Wohnungen allgegenwärtig sein wird. Das hat vor allem Auswirkungen für die Radiosender. Denn dank Echo und Google Home gibt es endlich das, was uns mit DAB+ schon längst versprochen war: digitales Radio. Auch viele Verlage werden darum ihr Glück als Audio-Produzenten versuchen, mit mittelmäßigem Erfolg und überschaubaren Reichweiten. Der „Pivot to Podcast“ ist keine Strategie. Genau wie der „Pivot to Video“, dem Facebook mit seinem Switch auf längere Bewegtbild-Formen den Garaus gemacht hat. Unter anderem dadurch wurde zuletzt so viel Vertrauen zu den Publishern zerstört, dass ich mir nicht sicher bin, wie erfolgreich Facebooks Wette auf die Bewegtbild-Dollar, Watch, tatsächlich wird.
Deutlich spannender und erfolgreicher dürften für Publisher Facebook-Gruppen sein, die 2018 einen extremen Boom erleben werden und von cleveren Redaktionen nicht nur für die Link-Distribution, sondern zum Community Management eingesetzt werden. Natürlich bleibt dafür auch WhatsApp ein spannender Kanal. Allerdings könnte es hier für einige Publisher ein böses Erwachen geben, wenn WhatsApp Business (vielleicht) schon nächstes Jahr nach Deutschland kommt und der Content-Distribution über Drittanbieter wie WhatsBroadcast (vielleicht) ein Ende setzt.
Deutlich spannender und erfolgreicher dürften für Publisher Facebook-Gruppen sein, die 2018 einen extremen Boom erleben werden
Darum glaube ich, dass das neue Facebook für Publisher Instagram wird, in das viele Redaktionen im nächsten Jahr massiv investieren werden. Dabei zeichnet sich schon jetzt ab, dass einige von ihnen nichts gelernt haben und weiter auf Engagement Bait setzen. Bis es auch auf Instagram bestraft wird. Wer clever ist, nutzt trotzdem die Reichweite seiner Facebook-Seite so lange es noch geht aus, um neue Ausspielwege jenseits der Pages zu pushen.
Dazu gehören für mich auch mehr und mehr LinkedIn und XING. Vor allem der US-Player hat in den letzten zwölf Monaten mit seinem Feed große Fortschritte gemacht und ist gerade für Qualitätsmarken spannend. Auch Twitter hat sich etwas berappelt und steht inzwischen wieder besser da als vor einem Jahr. Als Tool für Journalisten bleibt es unbezahlbar. Und es wird alles daran setzen, auch für Content Distribution noch interessanter zu werden.
Snapchat wird es hingegen auch 2018 schwer haben, gegen Instagram anzukommen. Aber es wird seine Nische als Messaging-App finden. Für User Generated Content in Breaking-News-Situationen macht es Twitter mit seiner Map auf jeden Fall jetzt schon Konkurrenz. Was sonst noch kommt? Wir dürfen uns auf Klone von HQ Trivia freuen, Giphy wird zur relevanten Plattform, E-Commerce wird das neue Native Advertising und ganz sicher gibt es wieder einige Überraschungen, mit denen noch niemand rechnet.
Duygu Gezen – Creative Producer funk
Das 21. Jahrhundert wird endlich volljährig – und ist damit vielleicht wirklich „zu alt“ für Snapchat? 2017 haben wir alle immer noch über den möglichen Tod von Snapchat spekuliert, aber was, wenn das alles ein perfider Plan der „jungen Zielgruppe“ war, um diese ganzen nervigen Medienjournalisten und Digital-Irgendwas mit PR Consultants endlich loszuwerden?
Snapchat-Mastermind Evan Spiegel hat auch schon mal gezeigt, dass er kluge Entscheidungen treffen kann. 2018 wird er mit Snapchat nochmal seinen Hut in den Ring werfen. Die wichtige Frage hier: Lässt Facebook aka Instagram sich diesen Hut einfach nachschneidern – oder setzt ihn sich sogar einfach selber auf? Möglich. Wer kann, der kann.
Achtung, Kulturpessimismus: Facebook wird 2018 ein noch größeres Social-Monster werden. Warum? Ich hätte aktuell keine Lust, mit meiner supermegatollen Idee ein Social-Media-Start-up zu gründen. Die Motivation dazu zerfällt beim Gedanken an die unendliche Marktmacht von Facebook, das gefühlt mit jeder seiner Plattformen jedes interessante Feature einfach kopieren kann. Ohne Credit, ohne Nix. Auch von anderer Seite wird es 2018 neue Entwicklungen geben, die Facebook pushen. Einige YouTube-Creator werden aufgrund der aktuellen Demonetarisierungswelle auf der Videoplattform in die offenen (mit Geld und Reichweite vollgestopften) Arme von Facebook rennen. Für genügend Anreize wird man sorgen.
Was die Big Player 2018 noch größer machen wird: Die Social-Media-„Pässe“, die jetzt von Vodafone bis Telekom alle Mobilfunkanbieter in ihre Tariflisten mit aufnehmen. Das bedeutet für 2018: Noch mehr Video Content. Schön unterwegs Insta-Stories wegbingen, ohne dass das eigene Datenvolumen auch nur ein Byte darunter leidet. Wer sagt schon „nein“ zu einem Stück Schokokuchen, das keine einzige Kalorie hat? Wir Netzneutralen vielleicht – noch. Ob ich bei meiner nächsten Tarifverlängerung dieses Angebot ablehnen kann? Der Blick auf meine Handyrechnung lässt mich zweifeln.
Um mit was Positivem rauszugehen: 2018 werden wir weniger Geld für mobiles Internet ausgeben. Deutschland, kriegen wir das hin, plz?!
Ole Reißmann – Redaktionsleiter bento.de
2018 ist das Jahr der Gated Communities. Alle machen dicht: Nutzer ziehen sich in Gruppenchats zurück und schreiben flüchtige Direktnachrichten. Man bleibt lieber unter sich. Sonst kommt noch jeder.
Das ist nur leicht übertrieben: Wir erleben jetzt das zweite Social-Media-Zeitalter. Zunächst standen die Plattformen und Profile offen. Auf StudiVZ waren wir mit Klarnamen unterwegs, wir schrieben Blogs und persönliche Einträge auf Facebook und Instagram.
Je mehr Menschen „drin“ waren, desto mehr ging das Wohnzimmergefühl verloren. Oder besser: Es konnte sein, dass plötzlich eine trampelnde Horde das Wohnzimmer verwüstete. Anfänglich für die lulz. Dann als Dominanzgeste.
Gleichzeitig wurden die Plattformen erwachsen. Mehr Funktionen, mehr Kontrolle. Was gerade noch eine öffentliche Timeline war, ist nun der private Lockscreen auf dem Handy: Push-Nachrichten statt Pinnwand-Einträgen. Nach den Clans und Tribes kommen so die verschlossenen Dorfgemeinschaften zurück. Super für Journalisten, die wie eh und je ihrem Beruf nachgehen: Kontakte herstellen und Vertrauen aufbauen, sich mitunter einschleichen oder mit Leakern zusammenarbeiten. Der Journalismus wird gebraucht, um Öffentlichkeit herzustellen.
Und Publisher? Ziehen Paywalls hoch, pflegen Clubs und kümmern sich um ihre (zahlende) Community. Alle anderen: Bitte draußen bleiben.
Nun kann es für Publisher mittlerweile attraktiver sein, Geld direkt von Nutzern zu nehmen und auf den Umweg Werbung zu verzichten. Was die Journalisten herausfinden, verschwindet dann hinter mehr oder weniger offenen Toren.
Paymodelle im Online-Journalismus sind wichtig. Keine Frage. Nur wäre es fatal, wenn nun aller wertvoller Journalismus weggeschlossen wird. Nicht alle werden bereit oder in der Lage sein, für Journalismus zu zahlen. Sie brauchen ihn trotzdem.
Wir dürfen niemanden im Netz allein lassen mit Markenbotschaftern, Propagandaschleudern und Fake News. Wir müssen nicht nur in Gated Communities vordringen, wir dürfen uns auch nicht komplett in eigene Wohlfühlzonen zurückziehen.
Katrin Scheib – Social-Media-Redakteurin Coda Story
2018 wird das Jahr, in dem wir erfahren, ob Jose Espinosa Recht hat. Der hat 2015 in einem Forbes-Artikel vorhergesagt, dass Twitter innerhalb von drei Jahren sterben wird. Und man muss schon sagen, die Unternehmensführung tut einiges dafür, dass die Prognose wahr wird. Was haben wir am Ende von 2017? 280-Zeichen-Tweets, aber immer noch kein konsequentes Vorgehen gegen Hate Speech. Und hat in letzter Zeit mal jemand versucht, den Twitter-Account eines Mediums oder eines Journalisten verifiziert zu kriegen? Zumindest hier in Russland ist das inzwischen nahezu unmöglich, seit Twitter bei einer seiner Kündigungsrunden den zuständigen Mitarbeiter (ja, es war einer) entlassen hat. Der ist jetzt bei Tinder und hat damit vermutlich ein paar Probleme weniger.
So siecht und bröckelt Twitter vor sich hin, einerseits. Und andererseits zeigt es in der Nische dann manchmal ganz unverhoffte Stärken. Bei Coda Story, wo wir über Monate hinweg ein einziges Thema von allen Seiten beleuchten, haben wir auf Twitter ein kleines, starkes Follower-Netzwerk aufgebaut – knapp 5000 Wissenschaftler, NGO-Mitarbeiter, Politiker, Journalisten und andere Leute in aller Welt, die sich zum Beispiel für Themen wie LGBTQ-Rechte oder staatliche Propaganda interessieren. Jeder und jede von ihnen ein großartiger Multiplikator – mehr als 60 Prozent unseres Social Traffics kommt von Twitter. Aber das ist eben die Nische eines sehr speziellen, spezialisierten Mediums. Was ist mit den Normalnutzern mit 50 Followern, oder den großen Playern mit 500.000? Ist für die Twitter noch die Arbeit wert?
Klar, Twitter wird nicht das einzig interessante Thema 2018. Aber über die anderen reden wir dann ab Anfang Februar. Jose Espinosas Twittertodes-Prognose wird nämlich am 31. Januar fällig.
Dirk von Gehlen – Journalist und Autor
Mein Ausblick auf das neue Jahr ist ein Wunsch. Ich wünsche mir, dass wir aufhören über das Internet und über Social-Media aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts zu sprechen. Begriffe wie Transformation oder Medienwandel sind nur für diejenigen interessant, die aus dem gestern auf das Netz schauen. Wer aus dem 21. Jahrhundert stammt, erkennt weniger einen Wandel als vielmehr eine alltägliche Infrastruktur. Das Jahr 2017 hat uns vor Augen geführt, dass diese aber nicht selbstverständlich ist.
Die wachsende Dominanz der Plattformen, deren diskutables Verhalten bzw. Nicht-Verhalten sowie die fortgesetzten Angriffe auf die Netzneutralität zeigen uns: Wir müssen anfangen, die Idee eines dezentralen Webs zu verteidigen. Das historische Geschenk eines weltumspannenden Netzes ist wertvoller als die Geschäftsinteressen der großen Plattformen.
Ich wünsche mir, dass die Nutzerinnen und Nutzer das im Jahr 2018 wieder mehr in den Blick nehmen. Dass sie anfangen, selber wieder aktiv zu werden und sich digitale Räume zurückerobern. Wie das gelingen kann? Zum Beispiel durch die Wiederentdeckung einer vermeintlich verstaubten Technologie: Ich wünsche mir für 2018 die Renaissance des RSS-Feeds.
Dennis Horn – Journalist und Dozent
Das Jahr 2018 wird die Schlinge um Facebook noch einmal enger ziehen. Das vergangene Jahr hat uns das Netzwerkdurchsetzungsgesetz eingebrockt. Dieses Jahr werden wir weitere Bemühungen erleben: Kartellwächter, Medienaufsichten, Datenschützer und andere Stellen werden weitere Schritte unternehmen, die Plattform zu kontrollieren oder zu regulieren. Auch in den Medien selbst wird es kritischere Stimmen geben, weil Medienhäuser befürchten, mit der Weiterentwicklung des Newsfeeds ihre Reichweiten zu verlieren.
Apropos Newsfeed: Wir werden substanzielle Änderungen daran erleben. Der Newsfeed ist zu öffentlich geworden, inmitten der vielen professionell produzierten Inhalte ist das private Erlebnis der Nutzer auf der Strecke geblieben – sie haben weniger Inhalte selbst geteilt. Auch die großen Themen unserer Zeit von Fake News bis zur Filterblase wurden im Newsfeed geboren. Das könnte ein Grund dafür sein, warum Facebook damit experimentiert, professionelle Inhalte von Medienanbietern in einen eigenen separaten Newsfeed auszulagern. Facebook wird auch andere Orte außerhalb des Newsfeeds weiter stärken: Gruppen zum Beispiel, seinen hauseigenen Messenger, aber auch das Teilen privater Inhalte über die Storyformate seiner vielen Apps.
Und apropos Storyformate: Auch hier wird und muss es weitergehen. Vor allem bei Instagram werden die Storys mittlerweile so intensiv genutzt, dass eine gute Übersicht verloren geht. Instagram muss also nach Wegen suchen, den Stories mehr Raum und Ordnung zu geben – ohne dass die sehr einfache und stringente Benutzeroberfläche der App dabei Schaden nimmt. Und in diesem Rahmen könnte es auch hier dem Newsfeed an den Kragen gehen.
Richard Gutjahr – Journalist und Blogger
2018 wird großartig! Die Menschen werden sich besinnen, dass Qualitätsjournalismus seinen Preis hat und in Scharen analoge Zeitungs-Abos abschließen. Facebook und Google wollen Verantwortung übernehmen und die Klagen von Hass- und Verleumdungsopfern ernst nehmen. Twitter wird herausgefunden haben, was es eigentlich sein will und an der Börse durchstarten. Unterdessen weiß Apple gar nicht mehr wohin mit seinen Steuer-Milliarden und kauft – aus lauter Langeweile – Disney, Netflix und Großbritannien. Durchbruch bei der künstlichen Intelligenz: Alexa wird sich als erste A.I.-Personality ihrer selbst bewusst und Sarah Wagenknecht, Ursula von der Leyen und Markus Söder vom Talkshow-Thron stürzen. Einzigst Snapchat hat kein Fortune. Das Netzwerk hofft auf sein Comeback als erster virtueller Kandidat im Dschungelcamp 2019.
Interessante Ausblicke! Mir fehlt jedoch der Hinweis auf die beginnende, demographische Veränderung der User. Die Generation der Babyboomer wird immer aktiver und mächtiger in den sozialen Netzwerken. Wie werden sie sich verhalten? Kann man diese Generation mit der bisherigen Strategie erreichen? Welche Plattform wird gezielt Angebote und Features unterbreiten?
Genau, lieber Clemens Lotze! Das ist die Frage, die mich auch als Ü50-Bloggerin umtreibt: Wie sieht die User-Gemeinde in Zukunft aus? Werden wir, als Babyboomer, den zukünftigen Umgang mit Social Media mitbestimmen? Oder werden wir uns früher oder später wieder aus dieser Parallelwelt verabschieden, weil niemand unsere Ansprüche an das Netzwerken erkannt und aufgegriffen hat? Demografischer Wandel hin oder her – in der Welt der Social Media ist er noch nicht angekommen.
Liebe Astrid Sievers,
Die Ü50-Generation wird zunehmend die sozialen Medien – zumindest – mitbestimmen. Deren Erfahrung und zunehmende Teilnahme sind die Grundlage. Welche Plattform es sein wird bleibt sicherlich aktuell in den Sternen und den Unternehmern überlassen. Die jetzt aktiv auf digitalen Plattformen beginnende Generation der Babyboomer werden Veränderungen herbeiführen, die sich letztendlich immer wiederholen. Auf Fortschritt folgt Tradition, und danach wieder umgekehrt. Die Babyboomer bringen ihre traditionellen Werte zunehmend in die fortschrittliche Kommunikation mit ein. Sie sind sicherlich ein gutes Beispiel dafür.
Darüber hinaus, darf man nicht vergessen, dass Digitalisierung die Kommunikation, Dateneingabe und Datenfreigabe voraussetzt. Wer den aus Erfahrung gelernten Umgang im Alter anwendet wird persönliche Erfolge erzielen. Dies wird den Marketern nicht lange verborgen bleiben. Die Ü50-Generation wird demnächst vermehrt auf sämtlichen gesellschaftlichen und ökonomischen Feldern nachgefragt.
Kleines Beispiel?!?: Ein junger Snapchatuser oder Studienabgänger wird in der digitalen Welt kaum einem angehenden Rentner auf Facebook die Dienstleistung für mobile Pflege oder Mittagstisch nahe bringen können. Geschweige denn, die Zielgruppe jemals erreichen. Wie will er eine Versicherung für die Pflege oder temporäre Haushaltshilfen verkaufen?
Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Faktoren, die für das aktive „Comeback der Alten“ spricht. Evtl. werden sie sogar aktiv „die Welt der Social Media“ progressiv verändern!
Viele Grüße
Clemens Lotze
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Schönen Dank insbesondere an Lina Timm, wenn sie feststellt „Ich habe das Gefühl, viele haben den Kern von Social Media überhaupt nicht verstanden“ – denn das ist tatsächlich der Fall. Insbesondere die großen Medienhäuser SPIEGEL und Süddeutsche haben das Netz immer nur genutzt, um ihre Beiträge zu verlinken – der Rest war Sintflut. Ob darunter rechtsextreme oder ausländerfeindliche Kommentare zu finden waren? Who cares? Reichweite zählt!
Das ist übrigens m. E. einer der Hauptgründe, warum Google+ nie zur Sprache kommt, wenn es um Social Media geht: Dort wird deutlich mehr argumentiert als auf Facebook…und es fällt dort Vielen negativ auf, wenn keine Interaktion seitens des Erstellers eines Posts stattfindet oder rassistische Kommentare einfach so stehenbleiben.
Don Krypton (auch wenn ich Klarnamen deutlich präferiere!): Twelve Points! Du kannst gerne einmal bei mir auf Google+ vorbei schauen.
Schon erledigt – bist in meinem „Bloggisten“-Kreis. Was den Namen angeht, steht der Grund für die Kryptisierung in meiner Beschreibung.
Großartig, dass ausgerechnet der BILD-Mann die Aussage „Glaubwürdigkeit ist und bleibt für journalistische Produkte am wichtigsten.“ macht! Warum arbeitet er denn dann für ein Medium, dass ständig Fakten verdreht, falsch wiedergibt oder komplett erfindet, nur um Schlagzeilen zu bekommen, und Neid und Missgunst zu schüren? Beispiele dafür gibt es genug auf http://www.bildblog.de
@Andreas: Realsatire nennt man sowas
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